Gedankenfreiheit / künstlerische Freiheit
Sire, geben Sie Gedankenfreiheit!
Friedrich Schiller: Don Carlos, Infant von Spanien, Zehnter Auftritt: Der König und Marquis von Posa
… und alle, die außerhalb des geisteswissenschaftlichen Strebens stehen, sehen uns als Narren oder etwas Ähnliches an.
Rudolf Steiner, GA 158, Dornach, 15. November 1914
Gerne und häufig wiederholen Vertreter der Anthroposophischen Gesellschaft die Worte von Joseph Beuys »Die Mysterien finden im Hauptbahnhof statt«, um ihre eigene Weltoffenheit und die tiefe Verwurzelung der Anthroposophie in der allgemeinen Lebenswelt, im menschlichen Alltag zu dokumentieren, um die fast schrankenlose Lebenswirklichkeit moderner Anthroposophie aphoristisch zu untermauern. Das vollständige Zitat finden wir allerdings so gut wie nie; es lautet: »Die Mysterien finden im Hauptbahnhof statt, nicht im Goetheanum.« (Joseph Beuys, 1984)
Die Mysteriendramen finden allerdings noch immer am Goetheanum statt, wenn auch nicht mehr auf dessen Bühne. Bei genauerer Betrachtung bemerken wir ein endloses Verharren im 8. Bild des Dramas »Der Hüter der Schwelle«, das heißt, die Mysteriendramen sind in die Wirklichkeit eingesickert, sie werden im Untergrund der anthroposophischen Gesellschaftswirklichkeit in groben Strichen nachgezeichnet. Das Goetheanum ist ein symbolischer Ort geworden, ein Schatten seiner selbst, eine Welt für sich.
Wenn wir das geistige Fortschreiten der Anthroposophie erkennen wollen, müssen wir lernen, vom Goetheanum mehr und mehr abzusehen. Der Anthroposoph der Gegenwart ist Baumeister eines inneren Goetheanum, während das äußere Goetheanum als Baudenkmal zu erhalten und zu pflegen, als zentrale Quelle spirituellen Lebens jedoch nicht mehr anzusehen ist. Es gehört zum geistigen Erwachsenwerden, die Goetheanum-Leitung nicht mehr zu identifizieren mit der Geistgestalt Rudolf Steiners und zu erkennen, dass die esoterische Hochschule, deren Begründung Rudolf Steiner vorschwebte, neue und vielfältige Gestalt angenommen hat.
In diesem Sinne hat das »Haus der Sprache« in Bad Liebenzell-Unterlengenhardt, anlässlich seines 40-jährigen Gründungsjubiläums am 3. Oktober 2018, auf ausdrücklichen Wunsch von Rudolf und Marie Steiner die Aufgaben der »Sektion für Redende und Musizierende Künste der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft am Goetheanum« übernommen (de facto schon seit geraumer Zeit, offiziell seit dem 3. Oktober 2018). Zu diesen Aufgaben gehört nicht die Aufführung der Mysteriendramen Rudolf Steiners, gehören keine »Faust«-Festspiele, keine traditionellen Eurythmie- oder Rezitations-Darbietungen, keine Konzerte oder Figurenspiele, es sind auch nicht Pflegemaßnahmen einer absterbenden, im herkömmlichen Sinne verstandenen Sprachgestaltung gemeint, sondern die Ausbildung einer heilkünstlerischen Sprachanthroposophie, welche Kunst, Wissenschaft und Religion in eine neue und weiterführende innere Übereinstimmung bringt.
Geistesgeschichtlich wiederholt sich der Moment, währenddem Rudolf Steiner mithilfe Marie von Sivers das sprachkünstlerische Element in die seltsam erstarrte Lebenswelt eines geistig interessierten Publikums einzupflanzen versuchte (1907: »Münchner Kongress«, Trennung der »Esoterischen Schule« von der »Theosophischen Gesellschaft«). Die esoterische Entwicklung der Anthroposophie ist deshalb nicht rückwärtsgewandt. Sie ist an Menschenleben gebunden, nicht aber an Satzungen. Ihre Konstitutionen sind beweglich, ihre Intentionen unsentimental, die Kooperationen mit der geistigen Welt stabil, einleuchtend, nachvollziehbar.
Die Vergangenheit ist überreich und schwerwiegend, sie hat die Gesetze geistigen Lebens verändert. Die Gegenwart ist der Brennpunkt zukünftiger Gestaltungskräfte. In diesem Brennpunkt schmelzen die inneren Einstellungen und Gewohnheiten, die Standpunkte und Gewissheiten, die Vorstellungen und Sympathien, die das Ich der Anthroposophie in uns gefangen und versteckt halten. Sprachgestaltung im richtig verstandenen Sinne ist Freiheitswissenschaft. Sie ist die biologisch-dynamische Landwirtschaft auf den Äckern der eigenen Seele, die Anthroposophische Medizin des Geistesmenschen, die sozialwissenschaftliche Kunst eurythmisch sich vollziehender Menschwerdung.
Otto Ph. Sponsel-Slezak, 2. September 2018